Die Erinnerungen an ihn sind nur noch vage. Seine Stimme kann ich nicht mehr hören. Das mag daran liegen, dass er nie ein Mann grosser Worte war. Die Reden am Stammtisch überliess er anderen. Auch sein Gesicht steht mir nicht mehr klar vor Augen. Bilder verschwimmen über die Jahre.
Eines ist geblieben. Wie er früh morgens bei uns draussen vor dem Hof sitzt, Kaffee trinkt und dabei übelriechende Zigaretten raucht. Immer wenn die Grossmutter zuhause anfing, an ihm herumzumäkeln, suchte er bei uns Zuflucht. Die Grossmutter mäkelte oft, also sass er auch oft bei uns vor dem Hof.
Ab und zu machte er mit uns drei Buben einen Ausflug. Dann fuhren wir in seinem beeindruckend leisen Mitsubishi durch das Emmental. Oder er ging mit uns und unserem Schäferhund im ‘Sand’ spazieren. Auch da sprach er selten.
Erst nach seinem Tod erfuhr ich, dass er seine ganze Kindheit über als Verdingbub zubrachte. Auch darüber hat er wohl ein Leben lang geschwiegen. Nur gelegentlich, so erzählt man sich, brach es aus ihm heraus. Am schlechtesten kamen dabei die ‘Pfaffen’ weg. Davon erfuhr ich erst, als ich selbst einer war. Vielleicht erklärt das auch die Skepsis, die ich meinem eigenen Berufsstand zuweilen entgegenbringe. Gut möglich, dass sie mir im Blut liegt.
Welches himmelschreiende Unrecht er als Junge erfahren haben muss, dass er gerade bei der Kirche zwar Worte, jedoch keine guten fand, kann ich nur erahnen. Wir machen es uns einfach, wenn wir von Machtmissbrauch in der Kirche sprechen und dabei mit dem Finger auf andere zeigen. Auch in unseren Reihen gab und gibt es Missbrauch.
Was würde er wohl denken, wenn er mich Sonntagmorgens in der Kirche durch die Reihen schreiten und salbungsvolle Worte sprechen sähe? Könnte er sich ein wenig versöhnen oder würde er schweigen? Würde er mir in einer ruhigen Minute draussen vor dem Hof doch irgendwann seine Geschichte erzählen? Bei seinem Tod war ich acht. Bis heute bedaure ich, dass wir dieses eine Gespräch nie führen konnten. Womöglich hätte es uns beiden gutgetan.
Viel zu oft bedecken wir unsere Narben und Verletzungen unter einem Mantel des Schweigens. Wir schämen uns für unsere Geschichte und reden uns ein, wir müssten dankbar sein für das, was wir haben. Für die Wut über erlittenes Unrecht haben wir ein schlechtes Gewissen. Dass wir vielleicht nicht vergeben können, gibt uns das Gefühl, schlechte Christ*innen zu sein. Aber nichts davon ist falsch.
Vielleicht geht es Ihnen manchmal so wie meinem Grossvater und Sie finden nur schwer Worte für das, was Sie erlebt haben. Das ist in Ordnung. Ich möchte Ihnen Mut machen, dennoch nicht mit Ihren Gefühlen allein zu bleiben. Hier in der Kirchgemeinde hat es ein grosses Team an Seelsorger*innen. Wir sind da, redend, schweigend, hörend, bis Sie Ihre Worte finden. Womöglich tut es uns beiden gut.
Tobias Zehnder